Ein ESSAY über die choreografische zeitgenössischen Überarbeitung von klassichen Handlungsballetten (geschrieben im September 2011 / Nordhausen):
DER NUSSKNACKER
Ein renommierter Schweizer Tanzkritiker hat einmal vor vielen Jahren auf einem Symposium formuliert, dass sich ein Choreograf nur dann als solcher betiteln dürfe, wenn er zumindest einmal in seiner Laufbahn ein abendfüllendes Handlungsballett kreiert hat. Dies sei die Feuertaufe und Bestätigung, dass er mit der Sprache des Körpers umgehen könne und die hohe Kunst des Geschichtenerzählens allein durch den Körper beherrsche. Auch wenn diese Ansicht sehr von der traditionellen Auffassung des Klassischen Balletts kam, habe ich mir dieses Anliegen schon in jungen Jahren sehr zu Herzen genommen.
Warum aber stellt nun für einen zeitgenössischen Choreografen ein klassisches Handlungsballett solch eine große Herausforderung dar?
Es mag wohl im ersten Moment verwunderlich klingen, aber im Tanz kennen wir keine Sprache der Zukunft, der Vergangenheit, kein Präteritum, noch Futur. Und somit können wir nicht in ein paar wenigen Sätzen über den Grund einer Situation berichten, warum etwas passiert ist, oder was wir möglicherweise in den nächsten Stunden (Tagen, Wochen oder gar Jahren) tun werden - vom Konjunktiv ganz zu schweigen. Diese Konjugation und verschiedene grammatikalischen Sachverhalte kennt der Tanz nicht. Jedes Schauspiel oder Musiktheater lebt aber genau von diesen Einschüben. Sie liefern die notwendigen Informationen für den Zuschauer, die das ein oder andere Missverständnis erklären, auflösen oder gar erst stiften, um die Spannung zu erhöhen oder gar bis zur Eskalation zu steigern. Alles in ein paar Sekunden. Nur ein kleinster Satz, ein einziges Wort kann dies bewirken.
Im Tanz? Alles geschieht im Moment, in der Gegenwart. Eine flüchtige Geste, ein kurzer intensiver, aber leider zum falschen Zeitpunkt gesetzter Blick oder eine zu schnell wiederholte, unsauber getanzte Bewegungssequenz, und man hat die Quintessenz, die Botschaft oder gar den ganzen Inhalt womöglich verpasst. Gefühle, wie Melancholie, Sehnsucht, Liebe, Trauer können zwar vermittelt werden, aber der genaue Grund bleibt oft wage im Raum stehen. Da muss die Choreografie - und die eng damit verwobene Regie - viel Koordinationsarbeit und Feinabstimmung leisten, um dem allen gerecht zu werden.
Der „neue“ Nussknacker in Nordhausen ist nun mehr mein sechstes Handlungsballett, das auf einer traditionell und speziell für Tanz geschriebenen Musik basiert. Und obwohl sich die Herangehensweisen im ersten Moment ähneln, musste ich feststellen, dass Tchaikowsky - und speziell dieses Weihnachtsmärchen - eine Herausforderung der besonderen Art darstellt. Fast jedes Stück Musik aus diesem Werk ist ein Ohrwurm, nistet sich in die Gehörgänge ein. Zahlreiche Erinnerungen an morgendliche von Ballettkorrepititoren begleitete Trainingsstunden und gefühlte hundert verschiedener aufgeführter Nussknackerversionen passieren vor dem inneren Auge Revue. Seh- und Hörgewohnheiten machen sich breit und es fällt mir manchmal schwer meine eigenen Gedanken und Bilder zur Musik weiterentwickeln zu lassen, und dass sie sich nicht in die Quere kommen. Man hat die Tendenz sich mehr und mehr an das Traditionelle zu halten, was im ersten Moment nicht verkehrt klingt, aber dann die gesamte zeitgenössische Konzeption grundlegend ins Wanken bringen kann.
Wie bewegen sich die Figuren. Ästhetik oder Ausdruck? Bewegungsfluß oder eher kurze, gebrochene Dialoge? Wo finde ich mich als Künstler darin? Wo zahle ich Tribut an die vorliegende Partitur? Was wird das Publikum wirklich wahrnehmen können?
Mein Bewegungsstil ist neben der klassischen Prägung sehr von den ModernDance-Choryphäen Humphrey, Limon, Graham und Cunningham beeinflußt und mein tanztheatralischen, dramaturgischen Inspirationen reichen von Mats Ek über Christopher Bruce bis Pina Bausch. Wieviel darf ich also an einem solchen in vielerlei Hinsicht historischen Theaterwerk herum schrauben, so dass es dennoch seine Berechtigung hat, dass es neu gestaltet und umformuliert wird? Wo beginnt das Stück zu kippen und verliert den Kontakt und roten Faden zur ursprünglichen Partitur und Librettovorlage - und auf der anderen Seite zu meiner eigenen Idee.
Meine Idee, mein Konzept?… einer der Dumas Brüder hat E.T.A. Hoffmann beeinflusst „Nussknacker und Mausekönig“ zu schreiben, und dieser hat Tchaikowsky und den Choreografen Petipa inspiriert ein Ballett daraus zu machen. Mittlerweile haben sich abertausende Choreografen daran mehr oder weniger erfolgreich versucht. Und nun ist es an mir diesem Gesamtwerk neues Leben, einen lebendigen Atem einzuflößen. Mit elf Tänzern und Tänzerinnen. Ein wirkliches Abenteuer.
Jochen Heckmann / ChoreoArt