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Was mir so durch den Kopf geht #28

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  • vor 5 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

"Bewegung ist noch kein Tanz"


Die Abhängigkeit von Tanz und Musik ist allseits bekannt. Ebenso gilt, dass der Tanz ganz allein für sich stehen kann und auch soll. Trotzdem beobachte ich immer wieder, wie sich der Tanz der Musik unterordnet. Denn während die Musik schon immer ein unabhängiges Wesen zu sein scheint, begibt sich der Tanz in eine fast schon devote Position.


Heute habe ich auf Instagram durch den Algorithmus (der selbstverständlich sehr tanzlastig ist) wieder eine Solo-Improvisation eines Tänzers eingespielt bekommen. Zu einem bekannten Jazz-Song (Elvis Presley, „Unchained Melody") mit aussagekräftigem Text bewegt sich inmitten eines Tanzstudios mit Spiegeln und ein paar wenigen Betrachtern im Hintergrund ein attraktiver Tänzer, verrenkt sich, spielt mit Achsen und Dynamiken, wechselt in eine Formensprache, um sie gleich wieder aufzulösen, sein Fokus größtenteils in sich gekehrt, ab und an ein kurzer Blick nach außen. Ein Bewegungsablauf, der irgendwann beliebig wird, keiner Dramaturgie folgt, Gefühle auslässt und bei dem ich irgendwann, spätestens nach Sekunde 32, weiterscrolle.


Es ist nicht so, dass ich diese Art sich zu bewegen nicht spannend finde, bzw. die Qualitäten, wie Beweglichkeit, Sensibilität und Artikulation, das Feintuning und die bewundernswerte Körperbeherrschung nicht zu schätzen weiß. Aber es spiegelt die aktuelle Situation in der Kunst- und Theaterwelt in zahlreichen Fällen wider, die ich bei vielen Choreografen und Tanzschaffenden antreffe: Bewegung ist noch kein Tanz!


Natürlich kann man sagen: Instagram ist kein Theater, und eine Solo-Improvisation im Studio ist kein fertiges Werk. Das stimmt. Aber wenn jemand etwas veröffentlicht – und sei es „nur" auf Social Media – tritt er oder sie in den öffentlichen Raum. Und damit stellt sich die Frage: Was will ich zeigen? Wen will ich erreichen? Und warum gerade diese Musik? Wenn die Antwort lautet: „Es war nur eine Fingerübung", dann gehört sie ins Studio, nicht auf die Bühne – auch nicht auf die digitale.


Bewegung wird durch eine innere Haltung, durch das Bedürfnis eines Dialogs, durch den Ausdruck erst zu etwas Lebendigem, das uns fesseln, in den Bann ziehen kann. Die direkte Vermittlung von Rhythmus, eines schlagenden Taktes, der einem im Herzen trifft, den eigenen Herzschlag wahrnehmen lässt, gar intensiviert. Oder die Dynamik, die Geschwindigkeit, die Kraft, die in einer Bewegung liegt und sich umgehend vermittelt. Das Tempo der Füße oder das fast in Zeitlupe Heben der Arme über den Kopf. Der direkte Augenkontakt, die stoßweise Atmung, der trippelnde Klang von Füßen auf dem Boden, der sachte Windzug, der an einem vorbeiweht, wenn jemand eine Pirouette dreht. All dies zieht mich in dieses Zwiegespräch hinein und kann trotz oder gerade aufgrund seiner Komplexität etwas in mir auslösen.


Hierbei geht es weniger um die Ästhetik, weniger um die zirkusartigen Fähigkeiten und mit Sicherheit weniger um Tricks. Wenn sich Tanz vermittelt, etwas in uns auslöst, dann werden wir von der Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Tanzenden an- und mit hineingezogen. Wenn es nun auch noch eine dramaturgische Struktur gibt, die einen Subtext liefert, der der Beliebigkeit der reinen Bewegung eine inhaltliche Note gibt, dann bewegen wir uns in dem Bereich, den ich von professionellen Tanzschaffenden erwarte. Denn dann befinden wir uns nicht in einem beinahe therapeutischen, sich in einem Bewegungssumpf suhlenden Etwas, einem Raum, den ich gerne als „Wohnzimmer-Tanzen" (ein-für-sich-selber-in-geschlossenen-Räumen-unbeobachtetes-Bewegen-und-ein-rein-egoman-motivierter-körperlicher-Monolog) bezeichne, sondern in einem wahren Dialog, der sich an einen oder mehrere Betrachter richtet, die sich auf verschiedenen Ebenen abgeholt sehen wollen.


Und hier kommt die Musik ins Spiel. Natürlich ist sie Motivator und Inspiration. Ich selber habe mich zahlreich mit verschiedensten Musikrichtungen, Komponisten und Musikwerken auseinandergesetzt. Genauso habe ich aber auch genügend Tanzwerke kreiert, die sich erst einmal losgelöst von Musik entwickelt haben. Die Musik wurde hier eher wie ein Klangteppich und sekundär, wenn nicht sogar manchmal tertiär, eingearbeitet. Für mich muss der Tanz auch ohne Musik funktionieren, seine eigenen Melodien, Rhythmen und Atmosphären schaffen, denn der menschliche Körper hat so wunderbare Möglichkeiten, sich als Instrument (hörbar und auch stumm) darzustellen und sichtbar zu machen.


Das bedeutet nicht, dass Musik unwichtig wäre. Im Gegenteil: Wenn ich mich entscheide, mit Musik zu arbeiten, dann gehe ich eine Verpflichtung ein. Dann muss ich mich zu ihr verhalten – ob in Übereinstimmung, im Kontrast oder im bewussten Widerspruch. Aber ich kann sie nicht einfach als Tapete benutzen, die nebenbei läuft, während ich mich in meinem eigenen Bewegungskosmos verliere. Die Entscheidung für Musik ist die Entscheidung für einen Partner – und Partner ignoriert man nicht.


Wenn also dieser junge Tänzer sich toll bewegt, dazu einen weltbekannten Jazz-Song (noch dazu von einer einzigartigen Stimme gesungen) spielen lässt und dies veröffentlicht, erwarte ich einen Dialog. Zwischen der Musik und ihm ... und als Drittes mit mir, dem Adressaten, denn warum sonst möchte er es dann publik und für zig Menschen zugänglich machen. Dies hat hier aber nicht stattgefunden. Die Musik als Inspiration mitlaufen zu lassen, ohne auf den Inhalt des Textes einzugehen, die Stimmung der Musik, die sich sofort klar zu präsentieren weiß, einfach zu ignorieren, finde ich frech, wenn nicht sogar respektlos.


Musik zu verwenden, sie zu vertanzen, bedeutet auch immer eine Verantwortung gegenüber dem Komponisten, dem Texter, den Musikern, die diese Musik eingespielt und veröffentlicht haben. Augenhöhe kommt mir in den Sinn. Nicht immer gelingt das und daraus lernt man ja auch, beim nächsten Mal genauer hinzuschauen. Ob die Idee, die Musik zu interpretieren, sie als Boden für eine Choreografie oder Improvisation zu verwenden (gerade wenn man es dann auch öffentlich zeigen möchte), auch ineinandergreift, weiß man nicht immer. Man lernt zu spüren, ob nur an der Oberfläche gekratzt wird oder ob gar der Musik den Vorrang gelassen wird und der Tanz sich lediglich als Dekoration dranhängt.


Als Inspirationsquelle, als Fingerübung, „try and error" oder Testlauf geht so etwas immer. Dieses Spiel und die Recherche nach dem richtigen „Partner", mit dem man in den Boxring steigt und sich daran misst, wächst und bestenfalls über sich hinauswächst, ist der spannende Prozess, aber nichts, was ich allen vor die Nase halten muss.


Meryl Streep sagt vor einiger Zeit in einem Interview, dass man während der Entwicklung von Werken eigentlich kein Publikum braucht, sondern es bitte vor der Tür lassen soll. Denn es ist ein Prozess. Ein Sich-Ausprobieren. Und wenn am Ende auf der Bühne eine nahezu perfekte oder besser gesagt gelungene Darbietung steht, die mühelos und direkt auf das Publikum zusteuert, dann sieht man nicht die Hunderte und Tausende von Stunden, die man benötigt hat, um dort hinzugelangen. Und das ist gut so. Wenn es also gelingt, Tanz und Musik zu vereinen, so dass sie Hand in Hand gehen, sich eine Symbiose auf Augenhöhe ergibt, dann ist das eine wunderbare und meist sofort erkenn- und spürbare Sache.


Wenn ich an Choreografen wie Mats Ek, Jiri Kylian oder Crystal Pite denke, dann sehe ich, wie es gelingen kann. Mats Ek etwa nutzt die bereits in der Komposition angelegte Dramaturgie und kreiert so einen neuen Zugang zur Geschichte, die hinter der Musik liegt. Oder Crystal Pite, die es versteht, selbst in der Abstraktion Emotionen zu wecken und somit der Musik eine weitere Dimension hinzuzufügen, sie zu verstärken und somit auch zugänglicher zu machen. Hier entsteht dieser Dialog auf Augenhöhe, von dem ich spreche. Hier ist die Musik nicht Dekoration, sondern Gegenüber.


Mir geht es immer um das Ganze. Denn ein Tanz, eine choreografische Sequenz, ein ganzes Tanzwerk beinhaltet so viele Facetten, die man zusammenfügt, dass sich das alleinige Bewegen zu einem Musikstück (und sei es noch so gekonnt) noch lange nicht reicht, um eine künstlerisch relevante Aussage zur Schau stellen zu müssen.


Diese Haltung hat nichts mit Generationenkonflikten oder nostalgischer Strenge zu tun. Es geht um künstlerische Integrität: Die Bereitschaft, sich wirklich einzulassen – auf die Musik, auf das Publikum, auf den Moment. Und die Klarheit zu wissen: Nicht jede Bewegung verdient ein Publikum.

Aber jedes Publikum verdient eine Haltung. Und zwar nachhaltig und nicht nur im Moment.


 
 
 

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