Was mir so durch den Kopf geht #11
- info555080
- 26. Mai
- 5 Min. Lesezeit
PERFEKTION - oder die Geißel der Erwartungen
Wir hatten Besuch. Ich habe gekocht. Mir endlich dafür wieder einmal Zeit genommen. Der Brotteig ging auf, liess sich kneten, mehrfach falten, ging immer wieder auf und verströmte später diesen ganz eigenen Duft, den man aus Bäckereien am frühen Morgen kennt. Die Zutaten für den zweiten Gang lagen geschnitten in Schälchen bereit. Das Ragù alla bolognese köchelte vor sich hin. Das Dessert kühlte im untersten Fach bei beinahe Null Grad durch. Der Tisch war gedeckt. Schlicht und dennoch für alle Eventualitäten gewappnet mit Tellern, Gläsern, Untersetzern, Wasserkaraffen, farbfrohen Servietten und den ersten Vorspeisen.
Am Ende des Abends (es war fast Mitternacht) gab es viel Lob und Anerkennung für das kredenzte Essen, für die Gastfreundschaft und die unterhaltsame Gesellschaft. Insgeheim hatte ich selber aber mein Menü und meine Kochkünste natürlich kritischer gesehen. Das Brot bei weitem nicht so fluffig, mit Luftlöchern durchzogen, wie erwartet. Der erste Gang war nicht so aromatisch und eigenständig – oder besser gesagt pfiffig – im Geschmack wie angedacht und beim nächsten Gang hatte ich wohl doch die zu kleine Nudelformen gewählt. Das abschliessende Dessert war gut, aber auch nicht WOW ... meiner Meinung nach.
Perfektion? Anspruch? Wo ansetzen, was zählt? Mit was vergleiche ich mich, oder werde ich eventuell verglichen?
Die Sache mit dem inneren Kritiker
Da sitze ich also am Ende eines gelungenen Abends, räume den Tisch ab, die Küche auf und zerpflücke mein eigenes Werk wie ein übermotivierter Restaurantkritiker. Während meine Gäste sich für das tolle Essen und den wunderbaren Abend bedankten, katalogisierte ich bereits die vermeintlichen Mängel.
Das ist schon bemerkenswert – und nicht im positiven Sinne. Es ist diese eigenartige menschliche Neigung, Dinge nicht einfach stehen lassen zu können, sondern sie zu analysieren, bis ins kleinste Detail zu bemängeln. Das Glas, das normalerweise halbvoll vor mir steht, erscheint nun eher halbleer und die Temperatur des Wassers könnte man auch in Frage stellen.
Perspektiven und Wahrnehmungen
Bei meiner letzten Lesung wurde ich vom Moderator zur Einführung mit höchsten Tönen angepriesen. Die Erfolge beim Tanzen wurden erwähnt, und dass es auch beim Schreiben mit beginnendem Erfolg weitergeht. Da stellte er mir als Übergang die Frage, ob ich als Drittes auch noch gut kochen kann. Mein erster Gedanke: Hobby, es ist nur Hobby. Aber ja, ich liebe das Kochen und habe dabei gewisse Ansprüche an mich selber.
Die Relativität der Perfektion zeigt sich also nirgendwo deutlicher als in solchen Momenten. Meine Gäste erlebten einen Abend mit liebevoll zubereitetem Essen, angenehmer Atmosphäre und guter Gesellschaft. Ich hingegen mass mich an einem Standard, der weder definiert noch erreichbar war – einem Phantom aus Kochshows, Instagram-Posts und der nostalgischen Verklärung vergangener Mahlzeiten.
Dabei ist die Wahrheit doch: Perfektion ist nicht objektiv messbar. Sie existiert nur in unserer Vorstellung, genährt von unrealistischen Vergleichen und dem Drang nach Makellosigkeit.
Ich bewundere jeden, der mir ein selbst gemachtes Essen serviert, mir einen Gaumenschmaus beschert. Und ob nun Hausmannskost oder gehobene Küche, ob gutbürgerliche, deutsche Kost oder ausländisch Exotisches ... Kochen und Essen sind Seelengenüsse. Mein 'nicht-fluffiges' Brot ist für jemanden, der selten hausgebackenes Brot erlebt, vermutlich ein Genuss. Mein "langweiliger" erster Gang? Für jemanden, der selber kocht und weiss wie aufwendig es ist und nicht nur konsumiert, möglicherweise eine Abwechslung.
Die Gefahr der grundlosen Enttäuschung
Hier liegt das eigentliche Problem: Wir enttäuschen uns über Dinge, die gar keine Enttäuschung verdienen. Wir erschaffen Erwartungen aus dem Nichts und scheitern (das mag etwas übertrieben klingen) dann an unseren eigenen Luftschlössern. Es ist, als würden wir uns einen Test schreiben, bei dem die Prüfungsfragen erst während der Prüfung erfunden werden – und zwar von unserem strengsten inneren Kritiker. Diese Art der Selbstsabotage ist nicht nur unnötig, sie ist auch unfair. Unfair gegenüber der Zeit und Mühe, die wir investiert haben. Unfair gegenüber den Menschen, die unsere Gastfreundschaft genossen haben. Und unfair gegenüber uns selbst, die wir ein schönes Erlebnis geschaffen haben, es aber selber nicht würdigen können.
Was kann man dagegen tun?
Somit ist die erste Erkenntnis schlicht und einfach, aber nicht immer umzusetzen: Akzeptieren, dass ein "Gut" oft mehr als das eigene „Ausreichend“ ist. Das bedeutet nicht, die Ansprüche komplett über Bord zu werfen, sondern sie realistisch zu kalibrieren. Ein hausgemachtes Brot muss nicht wie vom Profi-Bäcker aussehen. Es muss schmecken, duften und mit Liebe gemacht sein. Das war es.
Zweitens hilft der bewusste Perspektivwechsel. Nicht durch die hyperkritsichen eigenen Augen schauen, sondern durch die der Menschen, für die wir gekocht haben. Ihre Freude über das Erlebnis ist ein viel ehrlicherer Massstab als unsere selbst auferlegten, oft willkürlichen Standards.
Drittens – und das ist vielleicht am wichtigsten – die Dankbarkeit für das, was entstanden ist. Für die Zeit, die ich mir genommen habe. Für die Möglichkeit, Menschen zu bewirten. Für den Luxus, überhaupt über zu kleine Nudeln philosophieren zu können.
Mein Umgang damit
Ich versuche, mich in solchen Momenten zu unterbrechen. Wenn ich merke, dass mein innerer Kritiker wieder Überstunden macht, frage ich mich: "Was würde mein Partner oder meine besten Freunde jetzt dazu sagen?" Meistens würden sie sagen: "Du hast einen wunderbaren Abend geschaffen. Hör auf zu meckern und freu dich daran."
Es ist ein Lernprozess, diese automatischen Bewertungsmuster zu durchbrechen. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Aber allein das Bewusstsein dafür ist schon ein Anfang.
Die andere Seite der Medaille
Vielleicht ist diese Unzufriedenheit mit dem Status quo aber auch nicht nur negativ. Sie treibt uns an, uns zu verbessern, Neues zu versuchen, zu wachsen. Das Problem entsteht erst, wenn sie uns davon abhält, das zu schätzen, was bereits auf gutem Weg ist. Wenn sie aus dem Motor für Verbesserung ein Instrument der Selbstgeißelung wird.
Der Trick ist wohl, den Anspruch als Motivation zu nutzen, nicht als Prügelstock. Das nächste Mal bewusster würzen, eine andere Brotsorte versuchen, grössere Nudeln wählen – aber nicht, weil das Letzte für einen nur „ausreichend“ war, sondern weil es Spass macht, zu experimentieren und zu lernen.
Am Ende des Tages
Perfektion ist eine Illusion. Ein schöner Abend mit Freunden, gutes Essen und warme Gespräche – das ist real. Das ist wertvoll. Das ist vollkommen genug. Die nächste Einladung kommt bestimmt. Und vielleicht schaffe ich es dann, den Abend auch durch meine eigenen Augen als das zu sehen, was er ist: ein Geschenk. Nicht perfekt, aber lebendig. Nicht makellos, aber echt. Nicht wie aus dem Bilderbuch, aber aus dem Leben.
Und das ist doch eigentlich das Schönste, was man über einen Abend sagen kann.
In diesem Sinne: Mehr Nachsicht mit uns selbst. Mehr Wertschätzung für das Gelungene. Mehr Mut, das eventuell und ganz subjektiv Unperfekte als Teil des Lebens zu akzeptieren.
Bis zum nächsten Mal – beim nächsten Experiment in der Küche und im Leben.
Euer Jochen, herzlich
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