Was mir so durch den Kopf geht #5
- info555080
- 25. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Gelassenheit -
eine Frage des Ignorierens oder besseren Wahrnehmens?
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als mir der Begriff der „Achtsamkeit" zum ersten Mal begegnete – wie ein unerwarteter Gast, der plötzlich in der Tür steht und sich nicht mehr verabschieden will. Es war ein Zeitpunkt, als ich in meiner noch jungen Laufbahn als Tanzkünstler an mehreren Scheidewegen stand, nicht wusste, welcher Pfad der richtige sein würde. Die Möglichkeiten breiteten sich vor mir aus wie ein Fächer aus unzähligen Facetten – als ob ich am L'Arc de Triomphe in den Kreisverkehr eintrete und keine Ahnung habe, welche Ausfahrt mich zu meiner Bestimmung führt, geschweige denn, wie ich dem Verkehrschaos an Autos überhaupt entrinnen, den Weg nach draußen finden soll.
Als Tanzkünstler, insbesondere als Choreograf, ist die Achtsamkeit für meine Arbeitsweise ein elementarer Bestandteil im Mosaik meiner Methoden, das sich sehr natürlich und organisch ergibt – wie Wasser, das seinen Weg durch das Gestein findet. Da ist das detaillierte und reflektierte Beobachten, das Wahrnehmen meiner selbst, aber eben auch der gesamten Umgebung, mit allen Sinnen gefordert. Und zwar konstant und kontinuierlich, wie das Atmen, das wir vergessen, bis wir darauf aufmerksam gemacht werden. Bewegungen, Ausdruck, Formationen, die Architektur des Lebens wird so erforscht und fließt in die künstlerische Arbeit und Interpretation, sowie Darstellung für Bühnenwerke ein – gleich einem Fluss, der Sedimente verschiedenster Erfahrungen mit sich trägt und in den Ozean der Kunst mündet.
Momentan befinde ich mich wieder in einer Art Kreisverkehr – einem wirbelnden Karussell aus Möglichkeiten und Zwängen. Viele Entscheidungen harren wie ungeduldig wartende Kinder einer Antwort, manches bis zu einem bestimmten Grad selbst steuerbar wie ein Segelboot bei leichtem Wind, anderes wiederum in einer Abhängigkeit, die hier und da glasklar und in anderen Bereichen eher schwammig, beinahe nebulös wie Morgendunst über einem herbstlichen Feld daherkommt.
Was aber der Unterschied zu früheren Szenarien ist: Ich bin bei weitem gelassener, blicke manch einer Situation oder Aktion ohne erhöhten Pulsschlag zu, wie ein ruhender Stein im tosenden Bach. Ich lasse mich nicht so schnell aus der Fassung bringen, stehe manchmal sogar neben mir wie ein stiller Beobachter, der durch ein Fenster das Treiben auf der Straße verfolgt. Ich beobachte die Szenerie und versuche dabei eine gewisse Essenz herauszufiltern, die es mir einfacher macht, darüber zu urteilen und Entscheidungen zu finden. Den Moment soweit wie möglich gesamthaft wahrzunehmen und nicht nur aus der eigenen, meist sehr engen Perspektive – als würde ich nicht nur durch ein Schlüsselloch blicken, sondern die ganze Tür öffnen.
Dass sich zur Zeit die ganze Welt in ein wahnsinniges Tollhaus zu verwandeln scheint, verdanken wir mit Sicherheit auch den omnipräsenten Medien und zig Kanälen, die versuchen, wie hungrige Raubtiere auf unser Leben Einfluss zu nehmen. Und selbst, wenn wir uns dagegen wehren und den TV-Konsum, die Zeit vor dem Bildschirm, Smartphone und in Sozialen Netzwerken reduzieren, sind wir nicht davor gefeit, von all diesen Informationen und Bildern umzingelt zu sein. Es lauert an allen Ecken und Enden, ein Netz aus Reizen, das sich über unseren Alltag legt.
Sich dabei nicht dauernd konfrontieren zu lassen, sich immer wieder eine Auszeit zu nehmen – eine Insel der Ruhe in einem Meer aus Lärm – und wieder mehr zu sich, zu seinen eigenen Werten zu finden, sie auch zu leben und nicht nur zu betiteln, sie nicht nur wie auf einem Einkaufszettel aufzunotieren und ihn dann am Kühlschrank als Randnotiz zu vergessen, das benötigt eine gute Portion Gelassenheit. Eine innere Ruhe, den Dingen das richtige Gewicht zu geben, Gedanken auch loslassen zu können wie Luftballons am Horizont und nicht jeder Negativschlagzeile, jedem dramatischen Ereignis und gehypter Aussage Raum zu geben. Abstand gewinnen und herausfiltern, was einen wirklich, ganz tief drinnen bewegt, was einen motiviert, die nächsten Schritte zu gehen und nicht hinter jeder Aktion eine Tragödie oder gar epische Verschwörungen zu sehen, die wie dunkle Wolken am Himmel unserer Wahrnehmung hängen.
Und selbst, wenn es zu Katastrophen kommen sollte, ohne dabei zu banalisieren oder es einfach so hinzunehmen, ist es wichtig zu erkennen, was man beitragen kann, um es eventuell zu verhindern, es einzudämmen oder abzuschwächen – wie ein Deich, der zwar das Wasser nicht aufhalten, aber seinen zerstörerischen Lauf umleiten kann. Denn Gelassenheit hat nichts mit Apathie oder Lethargie zu tun, sondern mit einer emotionalen Ausgeglichenheit, die dennoch empathisch und energetisch zugleich ihre Wirkung entfalten kann – wie ein stiller See, der in seiner Ruhe die Kraft hat, das vollkommenste Spiegelbild der Welt zu zeichnen.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen einen entspannten Sonntag und einen gelassenen Start in die neue Woche – mögen die kommenden Tage von einem Hauch jener Gelassenheit begleitet sein, die nicht aus dem Ignorieren, sondern aus dem tieferen Wahrnehmen entspringt.
Euer Jochen, herzlich
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