Was mir so durch den Kopf geht #26
- info555080
- vor 19 Minuten
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„Vergänglichkeit"
Momentan bin ich, bzw. sind wir in unserem neuen Heim sehr gut angekommen. Wir fühlen uns wohl und so langsam weiß man, wo man seine Sachen wiederfindet, es stellen sich gewisse Routinen ein wie und wann man frühstückt, wo man am liebsten sitzt, wenn man liest oder mal einen Film schaut, sich zum kleinen Nickerchen zurückziehen möchte oder einfach hinaus in die Natur will.
Zum kreativ werden fehlt mir noch etwas der Raum. Und die Muße. Aber alles steht in den Startlöchern. Das Atelier ist fast fertig eingerichtet. Noch ein Nachmittag und ich kann auch dieses Umfeld für mich neu entdecken und mich in die künstlerische Arbeit begeben.
Und wie schon beim Aussortieren und Kategorisieren der Dinge im Haus – was bleibt, was kommt weg, was bekommt eine zweite Chance – und insbesondere beim Realisieren, was für „Schätze" meiner künstlerischen Arbeit, wie zahlreiche Dokumentationen, Videokasetten, Tonbänder, CDs, Plakate, Kritiken, (und am wichtigsten und beeindruckendsten) die handschriftlichen Notizbücher, voll mit Gedanken, Ideen, Konzepten, Skizzen über Reflektionen zu Proben, Korrekturen und finalen Lichtplänen, bis hin zu tagebuchartigen Einträgen über die IST-Situation als Tänzer, Choreograf und Ensembleleiter, die ich in meinem Archiv liegen habe, keimt die Frage auf: was geschieht mit all diesen Dingen, wenn ich einmal nicht mehr bin? Werden sie einfach achtlos weggeschmissen, entsorgt oder ist irgendjemand da, der dieser Sammlung Beachtung schenkt? Ist meine künstlerische Arbeit überhaupt greifbar, erfassbar oder in irgendeiner Weise sichtbar, wenn es nur die Fragmente gibt?
Meine Erinnerungen an all dieses künstlerische Schaffen werden mit jedem Relikt, das durch meine Hände geht geweckt, tauchen auf wie ganze Gebirge aus einem Meer. Mächtig. Majestätisch. Andere wie eine Seifenblase, die an einem vorbeischwebt und kurz darauf zerplatzt. Ich könnte stundenlang Anekdoten erzählen, von großen Auftritten wie 1998 im Bolschoi Theater in Moskau auf einer großen Gala oder über eine Probe für das Signature-Werk „Sextett+1" im Studio 3 der ARENA in Zürich. Oder als ich während einer Probe in der Staatsoper Prag erfuhr, dass ich den Ballettdirektoren-Posten in Augsburg bekommen soll. Oder als ich bei der Generalprobe für das Duett „Little Fields" mit Adriana Mortelliti mit heftigstem Wadenkrampf eine Minute vor Ende nicht mehr von der Bühne kam und Adriana mich mehr oder weniger von der Bühne trug ...
Oder von meinem Nervenzusammenbruch (heute würde man es wohl Burn Out nennen), als ich in Zürich unter der Last und dem Druck mit eigenem Ensemble, den finanziellen Nöten und der eigenen Erwartungshaltung das erste Mal im Leben so wirklich in der Scheiße zu sitzen schien. Wobei ich auch hier Wege heraus gefunden habe und im Nachhinein dankbar für die Erfahrungen bin, denn ohne sie hätte ich mich nicht weiterentwickeln, Dinge im Leben pragmatischer und realistischer sehen können, bzw. habe ich viele andere Projekte später anders angegangen, was meist erfolgreich war.
Aber was ist mit meiner choreografischen Arbeit. Diese Werke funktionieren nur in ihrer Gesamtheit auf der Bühne oder in den Räumen für die sie kreiert worden sind. Musik kann ich auf Tonträger oder digital so konservieren, dass ich dennoch einen nahezu 100% Eindruck erhalte. Bildende Kunst bleibt (je nach Material und Beschaffenheit) auch lange Zeit noch nach der Erstellung sehenswert und zugänglich. Ein Buch kann ich lesen, wann, wo und wie ich es möchte. Und so weiter und so fort.
Eine Choreografie? Das sind nicht nur Schritte oder tanzende Körper. In seiner Gesamtheit gibt es dort den Raum, die Requisiten, Bühnenbild, Licht, Kostüme, Maske, die alles komplettieren. Wenn nur ein oder zwei Elemente fehlen, also nicht präsentierbar sind, ist das Kunstwerk nicht komplett. Es bleibt ein Fragment. Hinzu kommt, dass ein Video, zwar eine Dokumentation darstellt, aber sie ist zweidimensional. Es fehlen zahlreiche Komponenten. Die Tiefe des Raums, der Blickwinkel, wo man während der Aufführung sitzt, die Gerüche, das Olfaktorische, die sich hier einfach nicht vermitteln lassen.
All das lässt sich nicht über Versatzstücke vermitteln. Es bleibt immer nur ein halbherziger und lückenhafter Versuch sich dem Kunstwerk in seiner Gänze zu nähern.
Desto flüchtiger der Moment des Wahrnehmens während einer Vorstellung, umso mehr freue mich, wenn ich noch Jahre (manchmal sogar Jahrzehnte) später von Personen angesprochen werde, die sich an bestimmte Choreografien erinnern: der Kofferhaufen und die Wolken-Poesie bei „Cumulus"; oder die wahnsinnige Energie und der Drive bei „Swing Alive"; die spannende Geschichte, die meine Interpretation der traditionellen „Giselle" zu einem Krimi werden ließ, die eine Zuschauerin bei weitem spannender empfand, als ein Tatort (wobei dies aktuell nicht so schwierig ist).
Solche Rückmeldungen berühren mich sehr, so wie meine Werke diese Menschen berühren, in ihnen etwas ausgelöst haben, das noch Jahre später nachklingt.
Dennoch bleibt diese Vergänglichkeit ein Manko, das mich melancholisch stimmt, etwas traurig stimmt, da die Flüchtigkeit meiner Kunst einfach unumkehrbar ist und selbst meine ganzen Kisten voll mit Fotos, Kritiken, Dokumenten, Plakatrollen und Korrespondenzen vor diesem Zerfall und dieser Momenthaftigkeit keinen Halt bieten.
Vielleicht ist es aber genau diese Vergänglichkeit, die Tanz und Choreografie so kostbar macht – dass sie nur im Augenblick existiert, in der Begegnung zwischen Tänzer und Zuschauer, und dann weiterlebt als Erinnerung, als Gefühl, als etwas, das einen Menschen für immer verändert hat.
Und so bleibt am Ende doch etwas Bleibendes: nicht in Archiven und Dokumenten, sondern in den Menschen, die dabei waren.







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