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Was mir so durch den Kopf geht #20

  • info555080
  • 22. Sept.
  • 3 Min. Lesezeit

Tanzen


Die letzten Wochen und Monate habe ich bestimmt nicht unter Bewegungsarmut gelitten. Kisten schleppen, Treppe hoch, Treppe runter, Möbel wuchten, von hier nach da, Entrümpeln, Dinge zerkleinern, auseinanderreißen, werfen, schieben, fallen lassen und weg damit. An manchen Tagen lag mein Pensum bestimmt beim zwei-, wenn nicht sogar beim dreifachen meines Crossfit-Programms. Über mangelnde Fitness kann ich mich also nicht beklagen. Insbesondere, wenn dann auch noch seit über einer Woche der Aufzug am neuen Wohnort ausfällt und man die 81 Treppen der fünf Stockwerke zu Fuß erobern muss.

Aber es hat nichts mit Tanzen zu tun. Dieser sinnliche, komplexe und äußerst persönliche Umgang mit seinem eigenen Körper. Dieses Eintauchen in Raum, Zeit und Sphären und Abtauchen in eine andere Welt, die für viele nicht nachvollziehbar oder gar greifbar ist.

Wenn ich also nach Wochen der Tanz-Abstinenz wieder in einem Studio stehe, mich für eine Lektion vorbereite, das Instrument stimme und schließlich in den Flow eintauche, dann ist das so, als würde ich schweben. Mein Puls, die Atmung, der Gedankenfluss vernetzen sich, lassen mich ruhig werden. Es herrscht eine Klarheit und innere Ruhe, die ich so in den vergangenen Wochen und Monaten kaum gespürt habe. Eher machte sich Müdigkeit breit, an der Grenze zur Erschöpfung. Mentaler Nebel. Kreativlosigkeit und die fehlende Lust auf Neues, auf künstlerische Bilder und Aussagen.

Umso mehr ich also wieder tanze, desto mehr fühlt es sich intensiv und unglaublich vertraut an.



Die Sprache wiederfinden

Es ist wie das Wiedererlernen einer Muttersprache nach langer Sprachlosigkeit (oder wie die typische Aussage: Wenn man einmal Rad gefahren ist, kann man es immer). Der Körper erinnert sich an Bewegungen, die ich über tausende von Wiederholungen gelernt habe, an eine Grammatik aus Raum und Zeit, die tiefer liegt als jede Vokabel. Während das Schleppen von Kisten meinen Körper zum stummen Lasttier degradierte, wird er im Tanz wieder zum Ausdrucksmittel einer inneren Wahrheit, die sich anders nicht formulieren lässt.

Die Rückenschmerzen, die sich nach Tagen des Wuchtens und Hebens festgesetzt hatten, lösen sich in den ersten Minuten der Bewegung. Nicht durch die reine Mechanik des Streckens oder Dehnens, sondern durch etwas Fundamentaleres: Die Muskeln erinnern sich daran, dass sie mehr sind als funktionale Hebel. Sie sind Teil eines komplexen Systems aus Empfindung, Ausdruck und Kommunikation mit sich selbst.


Heimkehr ins eigene Zuhause

Was in diesen ersten Momenten im Studio geschieht, ist nichts anderes als eine Heimkehr. Nicht in eine geografische Heimat – die habe ich gerade erst verlassen –, sondern in das ursprünglichste Zuhause überhaupt: den eigenen Körper. Nach Wochen der Entfremdung, in denen er nur Mittel zum Zweck war, nur Transportmittel für Kartons und Möbel, kehre ich zurück in eine Beziehung mit ihm, die von Respekt und Dialog geprägt ist.

Der Spiegel an der Studiowand zeigt mir nicht nur meine äußere Gestalt, sondern wird zum Portal der Selbstbegegnung. Ich sehe mich nicht als denjenigen, der Treppen steigt oder Lasten trägt, sondern als jemanden, der im Raum existiert, der Raum erschafft und von ihm erschaffen wird. Die 81 Stufen, die ich täglich erobere, werden zu einem mechanischen Akt der Überwindung. Die Bewegung im Tanz hingegen ist ein Akt der Verbindung – mit dem Boden, der Schwerkraft, der Luft um mich herum.


Das Ritual der Heilung

Das Stimmen des Instruments – dieser bewusste Moment der Vorbereitung – wird zum Ritual der Rückkehr. Jede Dehnung, jede Aufwärmung ist ein Friedensangebot an einen Körper, den ich wochenlang überfordert und überhört habe. Es ist eine Entschuldigung für die Grobheit des Alltags, ein Versprechen, wieder zuzuhören.

Und der Körper antwortet. Die Verspannungen lösen sich nicht nur physisch, sondern wie Blockaden im Fluss eines Gesprächs, das zu lange unterbrochen war. Die Schmerzen weichen einer Präsenz, die ich fast vergessen hatte. Hier, in der Bewegung, bin ich vollständig anwesend – nicht fragmentiert zwischen den Anforderungen des Umzugs, den To-Do-Listen, den praktischen Zwängen des Lebens.


Der Preis der Abstinenz

Erst die Abstinenz hat mir gezeigt, wie elementar dieser Dialog mit meinem Körper ist. Ohne ihn verändert sich nicht nur meine physische Verfassung, sondern meine gesamte Art, in der Welt zu sein. Die Kreativlosigkeit, der mentale Nebel – sie sind die direkten Folgen einer unterbrochenen Kommunikation mit mir selbst. Als hätte ich das wichtigste Gespräch meines Lebens einfach mittendrin abgebrochen.

Tanzen ist nicht Luxus, nicht Hobby, nicht eine Aktivität unter vielen. Es ist die Art, wie ich mich selbst spreche, wie ich mich selbst verstehe, wie ich zu mir nach Hause finde. Es ist die Sprache, in der mein Körper mir erzählt, wer ich bin – jenseits aller Rollen und Aufgaben, die das Leben mir zuweist.

Wenn ich wieder tanze, kehre ich nicht nur in ein Studio zurück. Ich kehre zurück in mein eigenes Leben.


Jochen, herzlich

 
 
 

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